Einführung

Einführung von Prof. Karl Karst

Prof. Karl Karst

Die Geschichte vom Kühlschrank, der sirrte
Ich erzähle gerne die folgende Geschichte: Als ich Anfang der neunziger Jahre einen neuen
Kühlschrank benötigte, bestellte ich ein FCKW-freies, umweltfreundliches Gerät. Als es
geliefert wurde, war ich glücklich: Einen neuen, umweltschonenden Kühlschrank hatte ich
gekauft und dafür eine kleine Wartezeit und höhere Kosten in Kauf genommen. Ich ging
schlafen und war zufrieden. Als ich am nächsten Morgen bemerkte, dass der Kühlschrank
ein hohes Sirren von sich gab und im Vergleich zu meinem alten (umweltschädlicheren)
Kühlschrank regelrecht „laut“ war, sank meine Zufriedenheit erheblich.
Ich rief den Händler an, der mir einen Fachberater vorbeischickte. Er kam mit einem Lärmmessgerät,
maß und sagte: „Tut mir leid, das liegt noch unterhalb der zulässigen Grenze!“
Ich bot ihm eine Tasse Kaffee an und bat ihn, mir zu erklären, woran es läge, dass mein
neuer, umweltfreundlicher Kühlschrank wesentlich lauter und hochfrequenter sei als mein
alter, weniger umweltfreundlicher. „Herr Karst“, sagte er, „Sie sind nicht der Einzige, der
sich beklagt hat. Deshalb hat uns unsere Firma auch mit diesen Messgeräten ausgestattet.“
– „Interessant!“, sagte ich. – „Die Antwort auf Ihre Frage ist eigentlich ganz einfach“,
sagte der Fachberater. „Die neuen, umweltfreundlichen Geräte haben nur noch halb so
viel Kühlflüssigkeit wie die alten, verfügen aber noch über den gleichen Motor. Der muss
nun wesentlich öfter und schneller laufen als bei Ihrem alten Gerät zuvor.“

Optisch – akustisch: Eine ungleiche Bewertung
Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil sie die ungleiche Bewertung der optischen und
akustischen Erscheinungen in der Gesetzeslage und im Bewusstsein unserer Gesellschaft
verdeutlicht: Jeder noch so kleine Kratzer, den ich nur gebückt und auf dem Boden liegend
rechts unten in der Ecke an meinem neuen Kühlschrank entdeckt hätte, wäre ausreichend
gewesen, ihn als „schadhaft“ zu bezeichnen und umzutauschen. Ein Geräusch
aber, das mich Tag und Nacht, durch geschlossene Türen und durch die Wände meiner
Wohnung erreichen kann, das mich also buchstäblich „berührt“, auch wenn ich nicht direkt
vor dem Verursacher des Geräuschs stehe, wird weniger gravierend eingestuft als ein
Kratzer, den ich nicht mehr sehe, sobald ich mich von meinem Kühlschrank auch nur einen
Meter entferne. Was schlecht aussieht, ist reklamierbar, was sich störend oder sogar
schädlich anhört, wird als Problem der Ohren abgetan!
Dies ist nur eines von unzähligen Beispielen, die sich anführen lassen, um zu verdeutlichen,
wie unbedeutend das Hören bewertet wird, wenn solches Ungleichgewicht bis
heute in unseren Gesetzen und in unserem Alltag vorkommt.

Sich Öffnen für das Hören
Auch wenn die Technik heutzutage große Erfolge erzielt: Kein Hörgerät der Welt kann
das natürliche Hören jemals wiederherstellen. Wer sein Gehör beschädigt oder verliert,
hat eine lebenslange Behinderung. Wer dies leichtfertig oder sogar mutwillig herbeiführt
(zum Beispiel durch zu lauten Musikgenuss oder durch verantwortungslosen Umgang mit
Knallkörpern), der schafft nicht nur einen großen Schaden für sich selbst, sondern auch
für die Gesellschaft. Die volkswirtschaftlichen Folgen der Behandlung von Hörbehinderungen
sind erheblich und werden auf Dauer nicht mehr von der Solidargemeinschaft
getragen. Zur langfristigen Behebung dieses Zustandes soll auch dieses Buch beitragen
– allerdings mit seiner eigenen Methodik: mit „Prävention durch Faszination“.
Der erhobene Zeigefinger oder erschreckende Vorführungen von Schäden zeigen meist
keine Wirkung. Jugendliche sind taub auf diesem Ohr! Wer gehört werden will, muss
selbst hören können und das heißt hier: auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen
eingehen und vor allem zunächst selbst Hören lernen. Es gehört zu den Bedingungen des
Erfolgs der folgenden Ausführungen, dass diejenigen, die sie anwenden, sich zuvor für
das Thema geöffnet haben. Nur wer begeistert ist, kann Begeisterung wecken …

Auf-sich-selbst-Hören
Ein entscheidendes Kriterium für Lebenskompetenz ist Selbstsicherheit und Selbstvertrauen.
Wenn ich meine eigenen Sinne kennen und nutzen gelernt habe, kann ich ihnen
trauen. Ich traue mir selbst, wenn ich meinen Sinnen vertraue – und ihnen mehr Kraft
gebe als dem „Dreingerede“ von außen, vor allem, wenn es mir via Werbung begegnet.
Das Auf-sich-selbst-hören-Lernen und das Sich-selbst-Trauen (seinen eigenen Empfindungen
und den Wahrnehmungen seiner Sinne) ist eines der langfristigen, übergeordneten
Ziele jeder Erziehung zum selbstständigen Menschen. Dazu gehört ganz wesentlich auch
das Erlernen des Hinhörens, des Zuhörens, der Fähigkeit zu lauschen: Nur wer zuhört,
kann selbst gehört werden …
All dies scheint in der heutigen Gesellschaft wenig präsent zu sein! Wäre es bekannter und
würde man aus diesen Erkenntnissen lernen, wäre der Umgang miteinander sicherlich ein
anderer.

Hören und emotionales Empfinden
Die Automobilindustrie hat den Zusammenhang zwischen Hören und Empfinden, zwischen
Akustik und Emotion schon seit geraumer Zeit intensiv erforscht und in ihre Produktion
einbezogen. So steht das Auspuffgeräusch eines Sportwagens schon fest, bevor
das erste Teil des Auspuffs gepresst ist. Das Geräusch der zufallenden Tür eines Oberklasse-
PKWs klingt auch keineswegs so, weil das Material es zufällig so will, sondern umgekehrt:
Es klingt so, weil das Material von Sounddesignern gezielt so gestaltet wurde, damit
die Tür so klingt, wie sie klingt, nämlich: „Sicher, solide, made in Germany!“
Was die Industrie weiß und in die Fertigung ihrer Produkte einfließen lässt, sollten die
Kunden von morgen, also die Kinder von heute, möglichst frühzeitig erfahren. Sie sollten
lernen, wie stark sie durch ihre Ohren leben, wie sehr ihr emotionales Empfinden durch
das Hören beeinflusst wird und wie leicht es durch Stimmen und Klänge gesteuert werden
kann. Zu allererst aber sollten sie wissen, wie wunderbar es ist zu hören – und wie
bedrückend es sein muss, diese Fähigkeit zu verlieren.